Kapitel 5: Der Markt
Ich nehme noch ein paar tiefe Atemzüge. Mit geschlossenen Augen spüre ich, wie mein Geist und meine Kraft langsam zurückkehren. Als ich mich wieder stark genug fühle, drehe ich mich zu Shali um.
"Sag mal, wie konntest du mich da drin so liegen lassen? Alle haben mich angestarrt! Oh Gott, war das peinlich. Ich kann mich hier nie wieder blicken lassen", platzt es aus mir heraus.
Shali starrt mich verdutzt an, ihre Ohren zucken verwirrt. Auch Darion, meine Mutter und sogar Nox schauen mich überrascht an. Plötzlich brechen alle
in herzliches Lachen aus. Es wirkt völlig unpassend angesichts der Situation, aber irgendwie auch erleichternd.
Darion ist der Erste, der wieder zu Atem kommt. "Oh, ich glaube, wir müssen uns erst mal keine Sorgen mehr machen. Unsere Lyra ist zurück", grinst er.
"Ja da ist sie wieder.", kichert Shali.
Ich spüre, wie meine Wangen rot werden, aber ich muss auch lächeln. "Ich habe hier einen Ruf zu verlieren", murmele ich verlegen.
Meine Mutter sieht mich immer noch besorgt an. "Ich denke, du solltest dir für den Rest des Tages frei nehmen und dich ausruhen. Zumindest bis Aeloria sich meldet."
Ich schüttle leicht den Kopf. "Aber Mama, wir haben so viel Arbeit in der Kräuterküche. Die Sommertränke müssen fertig werden und-"
"Keine Widerrede", unterbricht mich Shali sanft. "Deine Mutter hat Recht. Du brauchst Ruhe." Ihre blauen Katzenaugen funkeln verschmitzt. "Weißt du was? Lass uns erst mal in der Taverne zu Mittag essen. Ein voller Magen macht alles besser."
Ich seufze, weiß aber, dass ich gegen die beiden keine Chance habe. "Na gut", gebe ich nach.
Darion, der bisher still zugehört hat, mischt sich ein. "Das klingt nach einer guten Idee. Ich würde mich gerne anschließen, aber ich muss erst die Salbe zu meinem Vater bringen." Er wirft einen Blick auf das Töpfchen in seiner Hand.
Ich nicke ihm zu. "Wir können in der Taverne auf dich warten."
Ich sehe, wie meine Mutter erleichtert lächelt. "Ich bin so froh, dass ihr beide heute bei Lyra bleibt", sagt sie zu Shali und Darion. Dann wendet sie sich direkt an Darion: "Bitte pass auf die beiden auf."
Darion nickt lächelnd. "Ich werde ein Auge auf sie haben."
Plötzlich ertönt ein leises Knurren. Nox, der die ganze Zeit still neben uns gestanden hat, lässt seinen Blick über uns schweifen. Es ist, als wolle er sagen: "Ich passe auch auf."
Shali's Ohren zucken irritiert. "Moment mal, was soll das denn jetzt heißen?" Sie verschränkt die Arme vor Empörung.
Ich kann nicht anders und pruste los.
Shali murmelt etwas von "Aufpasser" und "lächerlich" vor sich hin.
Wir verabschieden uns von meiner Mutter, die uns noch einmal ermahnt, es ruhig angehen zu lassen. Dann machen wir uns auf den Weg, Nox trottet neben uns her.
Als wir in Richtung Taverne schlendern, durchbricht Shali die Stille. "Mensch Lyra, du hast mich echt zu Tode erschreckt. Wie willst du das wieder gut machen? Ich hab bestimmt zwei Katzenleben verloren!"
Ich muss schmunzeln, trotz des leicht vorwurfsvollen Tons in ihrer Stimme. "Tut mir leid, Shali. Ich verspreche, das nächste Mal falle ich woanders in Ohnmacht."
Shali seufzt theatralisch und ihre Ohren legen sich flach auf ihren Kopf. "Und ich hatte mich so auf unser Bogenschießen heute gefreut."
Bevor ich antworten kann, mischt sich Darion ein. "Hey, ihr beiden! Kein Bogenschießen. Lyra soll sich ausruhen, schon vergessen?"
Nox gibt ein leichtes Bellen von sich, als wolle er Darion zustimmen.
Shali und ich tauschen einen Blick aus und antworten wie aus einem Mund: "Zu Befehl, oh großer Aufpasser!"
Darion verdreht die Augen, kann sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. "Ihr seid unmöglich, wisst ihr das?"
Ich kichere leise. "Das gehört zu unserem Charme, oder Shali?"
"Absolut", stimmt Shali zu, ihre Schnurrhaare zucken amüsiert.
Trotz der Leichtigkeit unserer Unterhaltung kann ich die Sorge in den Augen meiner Freunde sehen.
"Hey", sage ich sanft, "es geht mir wirklich besser. Ihr müsst euch keine Sorgen machen."
Shali legt ihren Arm um meine Schultern. "Das sehen wir. Aber du bist unsere Freundin. Uns Sorgen zu machen gehört zum Job."
Wir erreichen den Marktplatz von Grünhain.
"Ich muss die Salbe zu meinem Vater bringen", sagt Darion und deutet in Richtung der Schmiede. "Wir treffen uns dann in der Taverne?"
"Beeil dich!", ruft Shali ihm nach. "Wir verhungern sonst noch!"
Ich atme tief durch. Der Duft von frischem Brot und Gewürzen erfüllt die Luft, vermischt mit dem Geruch des Waldes. Überall um uns herum herrscht reges Treiben.
"Schau mal, Lyra!", ruft Shali und zeigt auf einen Stand mit bunten Tüchern. "Die würden perfekt zu deinem Kleid passen das wir letzte Woche gekauft haben!"
Ich lächle. "Oh ja, die sind wirklich schön, aber etwas warm für den Sommer", sage ich, während mein Blick über die vielen Holzstände schweift. Jeder ist ein kleines Kunstwerk, liebevoll verziert mit verschiedenen Schnitzereien. Zwischen den Ständen wachsen wilde Blumen, ihre Blüten sind ein starker Kontrast zum rauen Pflaster des Dorfes.
Nox trottet neben uns her, seine Ohren aufmerksam aufgestellt. Plötzlich wedelt er mit dem Schwanz und schnüffelt in Richtung eines Fleischstandes.
"Nicht so gierig, du Vielfraß", necke ich ihn sanft und kraule sein Fell.
Ein lautes Kreischen lässt uns zusammenzucken. Ein Eichhörnchen hat sich gerade ein paar Beeren vom Obststand geschnappt und flitzt nun einen der Bäume hinauf, die den Marktplatz umgeben.
"Sieh dir das an!", kichert Shali. "Der Kleine hat's drauf."
Ich muss lachen, während ich dem flinken Tier nachsehe. Die Bäume spenden angenehmen Schatten, ihre Blätter rascheln leise im Wind. Trotz des Lärms der Händler und Käufer kann ich immer noch das fröhliche Zwitschern der Vögel hören.
Neben kleinen Ständen, die von Händlern aus ganz Sylvanor genutzt werden, gibt es auch die größeren Stände, die das Herz des Marktes sind.
Die größten sind definitiv der Stand der Holzwerkstatt mit Skulpturen und Möbeln aus dem Smaragdwald. Filigrane Schnitzereien und lebensechte Tierfiguren. Und unser Kräuterstand, ein Paradies für Naturliebhaber. Regale voller Kräuter, Tränke, Tinkturen und Salben.
Hier am Kräuterstand muss ich auch hin und wieder aushelfen. Zwei bis drei Personen aus der Kräuterküche sind hier täglich eingeteilt, um unsere Produkte aus Grünhain zu verkaufen.
Der Markt von Grünhain ist wie ein Fenster zur Welt außerhalb unseres kleinen Dorfes. Hier treffen sich Händler und Reisende aus allen Ecken Sylvanors, jeder mit seinen eigenen faszinierenden Geschichten und exotischen Waren.
Meine Augen bleiben an einem Stand mit schillernden Stoffen hängen. Der Händler, ein Oranith mit prächtigen, schimmernden Flügeln, erzählt gerade von den fliegenden Inseln seiner Heimat. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es sein muss, auf einer Insel zu leben, die weit über dem Boden schwebt. Die Vorstellung lässt mein Herz schneller schlagen.
Nicht weit entfernt höre ich die tiefe, raue Stimme eines Zwerges. Er preist kunstvoll geschmiedete Waffen an und berichtet von den gewaltigen unterirdischen Festungen seines Volkes. Riesige Hallen, in Stein gehauen, voller glitzernder Edelsteine. Wie gerne würde ich diese verborgenen Wunder unter der Erde mit eigenen Augen sehen.
Mein Blick wandert weiter zu einem Stand mit exotischen Gewürzen. Der Duft von Zimt, Kardamom und anderen mir unbekannten Aromen erreicht meine Nase. Die Händlerin, eine Felinari mit dunkelbraunem Fell, erzählt von endlosen Wüsten, majestätischen Dünen und wunderschönen Oasen. Ihre Worte malen faszinierende Bilder in meinem Kopf.
Jede dieser Geschichten weckt in mir die Sehnsucht nach Abenteuern und fernen Ländern. Ich stelle mir vor, wie es wäre, all diese Orte zu bereisen, ihre Wunder zu entdecken und ihre Geheimnisse zu lüften.
Plötzlich drehe ich mich zu Shali um, meine Augen funkeln vor Aufregung.
"Shali, wollen wir nicht auch mal auf Reisen gehen? Die Welt entdecken?", frage ich enthusiastisch.
Shali sieht mich überrascht an. "Oh Lyra, wo kommt das denn her? Hat dich der Sturz von der Treppe doch härter erwischt?"
"Hey, was soll das denn jetzt?", protestiere ich gespielt empört. "Ich träume hier ein wenig und will mit meiner besten Freundin auf Reisen gehen!"
Shali lacht herzlich. "Aber natürlich komme ich mit! Lyra und Shali entdecken die Welt, das wird großartig! Wo wollen wir anfangen?"Ihr Schwanz schwingt aufgeregt hin und her.
Ich überlege kurz und eine Idee blitzt in meinem Kopf auf. "Du, Shali... warst du eigentlich schon mal in der Heimat deines Volkes?"
Shali blinzelt überrascht. "In Sahluna? Ne, noch nie."
Ich lache. "Echt jetzt, Shali? Du musst doch vor Neugier sterben, wie dein Volk so lebt! Dass du noch nie auf die Idee kamst, mal Zandari zu besuchen... Die Stadt muss doch atemberaubend sein!"
Shalina sieht mich mit einem seltsamen Ausdruck an und ihre Ohren zucken. "Wann hätte ich das denn bitte machen sollen, Lyra? Ich bin auch erst zwanzig und hänge seit fünf Jahren hier in Grünhain fest."
Ich blinzele. "Oh, ich dachte... Naja, hätte ja sein können, dass du schon mal mit deinen Eltern dort warst."
Shali schüttelt den Kopf, mit einem gesengten blick. "Wir waren arm, Lyra. Wirklich gut geht es uns erst, seitdem wir vor fünf Jahren hier nach Grünhain kamen."
Ein unangenehmes Gefühl überkommt mich. "Oh Shali, das hast du mir nie erzählt."
"Alles gut, Lyra", sagt sie schnell. "Ich möchte auch nicht darüber reden. Und außerdem hast du mich nie gefragt, wo ich herkomme."
Ihre Worte treffen mich wie ein Schlag. Sie hat Recht. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, habe ich sie wirklich nie nach ihrem Leben vor Grünhain gefragt. Ich fühle mich plötzlich schrecklich. Wie konnte ich nur so wenig Interesse an meiner besten Freundin zeigen?
"Hey, jetzt mach nicht so ein Gesicht", sagt Shali und legt ihre Hand auf meine Schulter."Wenn du willst, erzähle ich dir die Geschichte mal, aber nicht heute. Heute kümmern wir uns erst mal um dich", fügt sie noch hinzu.
Ich nicke."Alles klar, aber wir schieben das nicht zu lange auf", sage ich entschlossen. Dann huscht ein Lächeln über mein Gesicht. "Und Zandari möchte ich wirklich gerne mal mit dir besuchen."
Shali grinst breit. "Sehr gerne, Lyra. Aber da müssen wir wohl ein wenig sparen. Geleitschutz, Kutschen und ein Boot für die Überfahrt sind bestimmt nicht günstig."
Wir lachen beide. Es fühlt sich gut an, zu träumen und Pläne zu schmieden, auch wenn sie vielleicht in weiter Ferne liegen. Und wenn sie nicht unmöglich sind, umso besser.
Plötzlich meldet sich Nox neben uns und zeigt mit seiner Nase Richtung Taverne.
"Oh, du hast Recht", sage ich und kraule ihm dankbar das Fell. "Wir sollten langsam mal zur Taverne."