Kapitel 1: Erwachen
Dunkelheit umgibt mich.
Ein undeutliches Gemurmel, ich kann nichts verstehen.
Das Geflüster ist zu leise, die Sprache unbekannt.
Ein Gefühl von Sorge.
Ich will antworten, aber meine Stimme gehorcht nicht.
Plötzlich wird es hell, das Raunen in meinem Kopf vergeht und ich öffne meine Augen. Verdammt, schon wieder so ein seltsamer Traum. Verliere ich langsam den Verstand?
Ich setze mich auf, strecke mich und werfe einen Blick durch das kleine Fenster in der Dachschräge. Zwei Vögel hocken auf einem Ast und zwitschern ihr Morgenlied. Ach, Schön- die Natur erwacht und ich sollte wohl auch allmählich aufstehen. Meine Finger tasten zur Seite, wo mein Kleid von gestern liegen müsste. Es ist aus einfachem Stoff genäht, Weiß mit einem türkisen Überwurf und praktischen Taschen. Rasch ziehe ich es über.
Einen Moment lang lasse ich meinen Blick durch mein kleines Reich schweifen. Das Zimmer unter der Dachschräge ist nicht groß, aber es ist mein Zuhause. Die Wände und der Boden sind aus dem warmen Holz des Smaragdwaldes gefertigt, das selbst nach all den Jahren noch in tadellosem Zustand ist. Mein einfaches Bett aus Ästen, Moos und der Leinenbettwäsche ist alles, was ich zum Schlafen brauche. In Grünhain, wo es das ganze Jahr über warm ist, braucht man nicht viel.
Ich trete vor den kleinen Spiegel neben der Tür und betrachte mein Spiegelbild. Meine langen, dunkelblonden Haare sind vom Schlaf zerzaust und meine Augen, eine Mischung aus Blau und Braun, sehen müde aus. Sommersprossen tanzen über meine sonnengebräunte Haut. Mit geübten Bewegungen flechte ich mein Haar zu einem praktischen Zopf.
Ich gehe die knarzende Holztreppe hinunter, jede Stufe ein vertrautes Geräusch in der Morgenstille. Als ich die Küche betrete, sehe ich meine Eltern schon am Tisch sitzen.
"Guten Morgen, ihr beiden", murmle ich und unterdrücke ein Gähnen.
Meine Mutter Elara lächelt mich an, ihre tiefgrünen Augen strahlen Wärme aus. Ihr dunkles Haar ist wie immer zu einem praktischen Knoten gebunden. "Guten Morgen, Schatz. Hast du gut geschlafen?"
Mein Vater Tharon nickt mir zu, seine kräftigen Arme ruhen auf dem Tisch. Sein kantiges Gesicht mit dem leichten Bart zeigt die üblichen Lachfalten um die Augen. "Morgen, Kleines."
Ich setze mich zu ihnen an den einfachen Holztisch. Mein Blick wandert durch unsere gemütliche Küche. Die gemauerte Feuerstelle und der Steinofen bilden das Herz des Raumes. Durch das kleine Fenster fällt warmes Morgenlicht herein und ich kann einen Blick auf unseren Hof erhaschen. Die majestätische Smaragdeiche steht dort in voller Pracht, ihre smaragdgrünen Blätter glitzern im Sonnenlicht. Ein Florabbit hoppelt munter seine Runden, sein pastellgrünes Fell schimmert sanft.
"Möchtest du etwas Brot und Honig?", fragt Mutter und reicht mir bereits einen Teller.
Ich nicke dankbar. "Ja, gerne. Der Honig ist wirklich köstlich dieses Jahr."
Ich kaue auf meinem Honigbrot und spüre, wie die Süße langsam meine Müdigkeit vertreibt.
"Du siehst etwas blass aus, Lyra", bemerkt Mutter besorgt. "Alles in Ordnung?"
Ich zucke mit den Schultern. "Hatte nur einen seltsamen Traum. Nichts Schlimmes."
Vater hebt eine Augenbraue. "Seltsame Träume, hm? Hoffentlich keine Vorahnung auf Ärger."
"Ach komm schon Tharon, nicht jeder Traum ist eine Vorahnung", sagt Mutter sanft mit einem Lächeln.
Ich muss lachen. "Keine Sorge, ich glaube nicht, dass Viridia mir böse Vorahnungen sendet."
"Na, das will ich hoffen", brummt er, ein Schmunzeln in den Augenwinkeln. "Ich hab heute noch einiges zu tun im Wald."
"Oh, das erinnert mich", sagt Mutter plötzlich. "Lyra, könntest du heute Nachmittag ein paar Kräuter für mich sammeln? Mir gehen die Mondtropfenblumen im Garten aus."
Ich nicke eifrig. "Natürlich! Ich wollte sowieso in den Wald. Ich treffe mich mit Shali."
Vater schaut mich neugierig an. "Was habt ihr beiden denn heute schon wieder vor?"
Ich spüre, wie meine Wangen leicht warm werden. Shalina und ich wollen eigentlich Bogenschießen üben, aber das muss ich ja nicht unbedingt erwähnen.
"Ach, nichts Besonderes", sage ich und versuche, beiläufig zu klingen. "Wir wollen ein bisschen durch den Wald streifen, vielleicht ein paar Beeren sammeln."
Vater nickt, scheint aber überhaupt nicht überzeugt. "Na dann, passt aber auf euch auf, ja?"
Da hat er mich aber leicht vom Haken gelassen, Glück gehabt.
Ich beende mein Frühstück und helfe Mutter, den Tisch abzuräumen. Während wir gemeinsam das Geschirr spülen, summt sie leise eine alte Melodie. Es ist ein vertrautes Ritual, das mich beruhigt.
"Ich geh mich dann mal fertig machen", sage ich und trockne meine Hände ab.
Als ich fertig bin, wartet Mutter bereits auf mich. "Fertig?", fragt sie mit einem Lächeln.
Ich nicke . "Ja, lass uns gehen!"
Gemeinsam verlassen wir unser Haus und machen uns auf den Weg zur Kräuterküche.
Ich trete mit Mutter aus unserem Haus und blinzle in das helle Sonnenlicht. Unser kleiner Hof empfängt uns mit einem Konzert aus Vogelgezwitscher und dem sanften Rascheln der Blätter. Die mächtigen Bäume, die unser Haus umgeben, spenden wohltuenden Schatten. Es fühlt sich an, als wäre unser Zuhause ein natürlicher Teil des Waldes.
Mein Blick schweift über die zwei schmalen Pfade, die von unserem Hof wegführen. Der eine schlängelt sich tiefer in den Smaragdwald hinein, während der andere nach Grünhain führt. Wir schlagen den Weg ins Dorf ein.
Während wir den Pfad entlangwandern, beobachte ich fasziniert einen Florabbit, das zwischen den Bäumen hüpft. Sein pastellgrünes Fell schimmert im Sonnenlicht, und kleine Blüten sprießen aus seinem Rücken. Ein Schwarm Regenbogendrosseln fliegt über uns hinweg, ihre schillernden Federn glitzern bei jeder Bewegung.
Plötzlich spüre ich ein dumpfes Pochen in meinen Schläfen. "Verdammt", murmle ich und reibe mir die Stirn. Diese Kopfschmerzen werden in letzter Zeit immer häufiger.
Mutter bemerkt mein Unbehagen sofort. "Lyra, alles in Ordnung?"
Ich seufze leise. "Nur wieder Kopfschmerzen. Nichts Schlimmes."
Sie legt besorgt eine Hand auf meinen Stirn. "Das passiert in letzter Zeit öfter, oder? du solltest mal mit Aeloria darüber sprechen."
Ich nicke zögerlich. Aeloria. Natürlich. Als Archonin des Pflanzenreichs hat sie ein tieferes Verständnis für die subtilen Energien der Natur. Vielleicht kann sie etwas wahrnehmen, das mir und meiner Mutter verborgen bleibt.
"Ich weiß", seufze ich. "Es ist nur... ich habe heute so viel zu tun in der Kräuterküche."
Mutter schüttelt entschieden den Kopf. "Keine Ausreden, junge Dame. Deine Gesundheit geht vor. Geh zu Aeloria, bevor du in die Kräuterküche kommst. Sie wohnt ja gleich um die Ecke."
Ich kann den besorgten Blick in ihren Augen sehen und gebe nach. "Na gut, ich werde vorher bei ihr vorbeischauen."
Wir erreichen eine Weggabelung, und Mutter wendet sich Richtung Kräuterküche. "Ich sehe dich dann später. Und Lyra?" Sie dreht sich noch einmal zu mir um. "Pass auf dich auf."
Ich nicke ihr zu und mache mich auf den Weg zu Aelorias Haus. Es liegt nur einen Steinwurf von der Kräuterküche entfernt, eingebettet zwischen hohen Bäumen am Rande des Dorfes. Schon von Weitem kann ich die üppigen Blumenbeete sehen, die ihr Haus umgeben.